Titelbild Jugendprotest-Bewegungen

Gut Ding will Weile haben

Es ist europaweit ein bekanntes Problem: Die tiefe Wahlbeteiligung junger Erwachsener. Nicht selten stellen auch die Medien hier, die Enthaltung jüngerer Bürger:innen bei Wahlen einem vermeintlichen politischen Desinteresse gleich. Haben junge Schweizerinnen und Schweizer etwa das Vertrauen in die Institutionen verloren – und tragen ihren Frust lieber auf die Strasse? LMNOP verschafft einen Überblick über die noch junge und bewegte Geschichte der schweizerischen Jugendprotestkultur.

Lesezeit: ungefähr sieben Minuten

Mit One-Piece-Strohhüten auf dem Kopf hissen sie Piratenflaggen, halten inoffizielle Wahlen auf Discord ab und protestieren auf den Strassen mit jeder Menge popkultureller Referenzen.Gen-Z-Proteste rund um die Welt sorgen für Aufsehen, feiern unerwartete Erfolge und führen gar zu Revolutionen inklusive Regierungswechsel. Wie steht es um Jugendproteste in der Schweiz?

Kundgebungen als Normalzustand 

Fast täglich gibt es in Schweizer Städten Kundgebungen, Mahnwachen oder Demonstrationen. In den letzten Jahren erreichte die Anzahl Kundgebungen in den Deutschschweizer Städten Basel, Zürich und Bern gar ein Allzeithoch. Im Kanton Basel-Stadt wurden 2024 insgesamt 326 öffentliche Kundgebungen gezählt, Zürich erreichte während der Pandemie mit 294 Kundgebungen schon im Oktober einen neuen Rekord, und in Bern übertraf man das Rekordjahr 2019 mit 360 Kundgebungen in den Folgejahren nochmals deutlich. Auch wenn diese Zahlen und Statistiken nichts über das Alter der Teilnehmenden aussagen, lässt sich festhalten: Die Schweiz protestiert auf der Strasse so oft wie noch nie. 

Themen wie der Gaza-Konflikt oder die Klimastreiks treiben junge Erwachsene auf die Strasse, in verschiedene Räume ihrer Unis oder auf öffentliche Plätze. Gerade die Gaza-Proteste an Schweizer Hochschulen im letzten Jahr sorgten für hitzige Debatten. An der ETH Zürich folgten Anklagen gegen Studenten, in Lausanne ging die Schulleitung teilweise auf deren Forderungen ein.

Die Klimaprotestierenden haben sich seit ihrem Höhepunkt 2019 mit dem Rekordumzug in Bern – mit über 100’000 Protestierenden – mehrheitlich von den Strassen zurückgezogen und in verschiedenen Regionen und Gruppierungen neuorganisiert. Und obwohl die Klimabewegung 2023 mit dem Klimaschutzgesetz einen grossen Erfolg feierte, ist es dieselbe Generation, welcher medial nachgesagt wird, sich nur mässig an politischen Prozessen zu beteiligen. Doch die Wahlstatistiken widerlegen dies: Im Jahr 2019, in dem die Klimastreiks in der Schweiz am meisten Menschen zu mobilisieren vermochten, gingen 18- bis 24-Jährige so oft an die Urne wie nie zuvor: 34 Prozent Wahlbeteiligung war der Spitzenwert bei eidgenössischen Parlamentswahlen seit 1995.

Die Schweizer Wahlstudie «SELECTS», durchgeführt von FORS (Forschungsinstitut für Soziologie) hält fest, dass im Jahr 2019 in dieser Gruppe die Beteiligung im Zuge der Mobilisierung rund um die Klimademonstrationen leicht gestiegen ist. Vier Jahre nach den Protesten, als das Klimaschutzgesetz angenommen wurde und die Klimastreiks merklich kleiner wurden, flachte die Wahlbeteiligung dieser Altersgruppe wieder auf 29 Prozent ab. Dies könnte den Eindruck erwecken, dass sich junge Wahlberechtigte vor allem durch grosse Mobilisierungen bewegen lassen und dass Proteste tatsächlich eine Auswirkung auf politische Partizipation haben.

Hier ist eine Statistik die die Wahlbeteiligung junger Erwachsener in der Schweiz mit Rentnern vergleicht.

Lesebeispiel: Im Jahr 2019 lag die Wahlbeteiligung bei 65-74-Jährigen bei 61 Prozent. (Quelle: Swiss Election Study (Selects), Cumulative Dataset 1995–2023) 

Protest als politischer Mechanismus 

Diesen Zusammenhang untersucht der deutsche Soziologe und Protestforscher Tareq Sydiq in seinem Buch «Die neue Protestkultur». Er erklärt unter anderem, dass Protestbewegungen damit leben müssten, dass sie kein Handeln erzwingen können, dafür fehle ein «politischer Mechanismus». Schliesslich sind Demonstrationen gemäss Sydiq nur eine Ergänzung zu politischen Möglichkeiten wie Motionen, Beschwerden und offenen Briefen. Deshalb seien die Form und die Ausdauer des Protests entscheidend für seinen Erfolg. In der Schweiz lässt sich dies in der Vergangenheit konkret an zwei exemplarischen Ereignissen erkennen.

Als im Juni 1968 Jugendliche in Zürich das Globusprovisorium besetzen, um an ebendiesem Ort ein autonomes Jugendzentrum zu fordern, ist dies nicht eine spontane Reaktion auf aktuelle Umstände. Es kommen vielmehr ein Generationen- und Klassenkampf zusammen, teils übertragen von politischen Strömungen, aber auch die neue internationale Popkultur (z.B. Rock ’n’ Roll) verändert die hiesige Gesellschaft. Denn schon zuvor gerieten sich Jugend und Polizei immer wieder in die Haare: So fühlte sich die Jugend unverstanden, als sie beim ersten Konzert der Rolling Stones im Hallenstadion Zürich 1967 tanzen wollte, sich der aufgestellten Klappstühle entledigen wollte und es darauf zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Die Presse, allen voran die NZZ, schrieb damals vom «Höllenspektakel» und vom «Urwaldgegurgel», das Tumulte auslöste. Für die bürgerliche Schweiz war es ein Beweis für die vermeintliche Verwahrlosung der «heutigen Jugend».

Hier ist das Bild vom Rolling Stones Konzert im April 1967. Nach dem Umwerfen von Klappstühlen kam es zu Ausschreitungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Die Stuhlschlacht im Hallenstadion Zürich, 14.04.1967 (Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv) 

Dreizehn Jahre nach diesen Ausschreitungen wiederholte sich die Geschichte mit einer Eskalation, die Geschichte schrieb. Der Anlass war bezeichnend: Der Stadtrat hatte 60 Millionen Franken für die Opernhaus-Renovation bewilligt, aber die Forderungen nach einem autonomen Jugendzentrum (AJZ) noch immer abgelehnt. Aus Unmut über den Entscheid versammelten sich am 30. Mai 1980 hunderte junge Demonstrierende vor dem Zürcher Opernhaus. Kurz darauf erhielten sie Verstärkung vom Publikum eines nahegelegenen Bob-Marley-Konzerts. «Get up, stand up for your rights» war nicht nur Songtext, sondern Programm. Die Polizei ging mit Tränengas, Wasserwerfer, Gummischrot brutal vor. Was folgte, waren 18 Monate Unruhen, über 400 Verhaftungen und Sachschäden in Millionenhöhe. Die Bewegung für mehr Verständnis für kulturellen Freiraum junger Erwachsener griff unter anderem auf Basel, Bern, Lausanne, Winterthur über. Diese Städte erlebten ebenfalls Jugendunruhen.

Die konservative Berichterstattung von damals stellte die Jugendlichen als kriminelle Unruhestifter dar. Wie zeitgenössische Medienberichte zeigen, wurde die Bewegung systematisch als unkontrollierte Unruhestörung portraitiert, statt ihre Forderungen zu behandeln. Ein legendäres TV-Ereignis hält fest, wie absurd die damalige bürgerliche Reaktion war. Am 15. Juli 1980 traten zwei Aktivisten – Fredy Meier und Hayat Jamal Aldin – im «CH-Magazin» im Schweizer Fernsehen als biederes Ehepaar «Herr und Frau Müller» auf und parodierten bürgerliche Positionen bis zur Absurdität. Sie forderten härtere Polizeigewalt, schlugen vor laufender Kamera den Einsatz von Napalm vor und riefen: «Diese Jugendlichen an die Wand stellen! Wir brauchen jetzt die Armee!». Die Sendung endete im Tumult und gilt noch heute als einer der grössten TV-Skandale der Deutschschweiz. Das Ereignis zeigt auch: Die Medienreaktion war so überzeichnet, dass Aktivisten sie nur noch satirisch offenlegen konnten.

(Quelle: Youtube, SRF Archiv)

Der Protestforscher Tareq Sydiq sieht ein Problem darin, dass der Effekt auf beteiligte Menschen zwar grösser sei, je häufiger und regelmässiger ein Protest stattfinde, gleichzeitig, so Sadiq weiter: «müssen Proteste, um medial von Interesse zu bleiben, stetig neu und aufmerksamkeitserregend sein – also möglichst unvorhersehbar.» Das ist die Struktur des Verschweigens: Medien brauchen spektakuläre Einzelereignisse, Protestbewegungen brauchen Kontinuität. Diese beiden Logiken können nicht zusammen existieren.

Die Lehre: Geduld und Ausdauer 

Die Auswirkungen der 80er-Bewegung in Zürich, aber auch in anderen Schweizer Städten waren enorm, doch die Reaktionen seitens Politik folgten nicht immer sofort. In Zürich, Bern, Basel und anderen Städten wurden autonome Jugendzentren eingerichtet. Die Rote Fabrik in Zürich wurde am 25. Oktober 1980 provisorisch eröffnet, unmittelbar nach den Opernhauskrawallen. 1987 wurde sie als Kompromiss zwischen Bewegung und Stadt nach jahrelangem Kampf durch eine Volksabstimmung als Dauerlösung bestätigt. Das Budget für alternative Kultur in Zürich verzehnfachte sich bis 1990.

Vierzig Jahre nach den Opernhauskrawallen wiederholt sich ein Muster: Schweizer Medien berichten im Zusammenhang mit Jugend- oder Studierendenprotesten primär über die Störung der öffentlichen Ordnung. Bei den Gaza-Besetzungen 2024 dominiert die Empörung, bei Klimablockaden die Debatte um Polizeikosten. Die gesellschaftlichen Ursachen der Proteste, wie struktureller Rassismus, Klimakrise, Nahostkonflikt, verschwinden hinter der Fixierung auf die Protestformen

Die Geschichte zeigt, dass Protest zwar wirkt, aber meist nicht sofort. Forderungen der «Hippies» nach gesellschaftlichem Umbruch und ihr Anti-Kriegs-Engagement hielten Jahrzehnte an. So erkämpfte sich 80er-Bewegung autonome Jugendzentren, freiere Formen des Zusammenlebens und ebnete den Weg zum Zivildienst. Vor wenigen Jahren hat die Klimajugend die Klimakrise auf die politische Agenda gebracht und sie somit einer breiten Masse vor Augen geführt. Das Muster bleibt trotz verschiedener Thematik und vierzig Jahren dazwischen dasselbe: Erst werden die Protestierenden als Unruhestifter delegitimiert, allmählich werden ihre Forderungen schrittweise akzeptiert und politisch umgesetzt oder zumindest in Betracht gezogen. Standhaftigkeit lohnt sich, ungeachtet der anfänglichen medialen Resonanz. 

Deshalb nun die Frage an dich: Was war dein erster Gedanke als sich die «letzte Generation» die ersten Male an Strassen festklebte? Und was macht deiner Meinung nach einen Protest erfolgreich?


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