In der Schule lernen wir Mathe, Deutsch, Bio – und nebenbei auch, wer wir alles sein können. Jahrzehntelang hiess es für Männer: stark sein, leisten, Gefühle im Griff haben. Gilt das heute immer noch? LMNOP hat hingeschaut: Wie wird Männlichkeit in der Schule vermittelt – und was macht das mit den Männern von morgen?
Lesezeit: ungefähr sieben Minuten
Niemand von uns hätte gedacht, dass wir fast zwanzig Jahre später wieder in einem Klassenzimmer sitzen würden, auf so kleinen Stühlen, wo unsere Hintern gerade so knapp drauf passen. Doch diesmal sind wir nicht mehr Erstklässler, sondern angehende Journalist:innen. Als der Lehrer in die Klasse fragt, wer wir sind und was wir hier machen, hebt sich eine Hand und ein Junge ruft: «Briefträger». Naja, immerhin irgendwas mit Zeitungen. Baris Figen, oder Herr Figen, wie ihn seine Klasse nennt, arbeitet seit bald zehn Jahren als Lehrer. Momentan unterrichtet er eine altersdurchmischte 1.-3. Klasse an der Primarschule Schoren in Basel. Wir sind kurz nach zehn Uhr da, als alle Kinder aus dem Klassenzimmer in die Pause stürmen. An diesem Mittwochmorgen hatten sie eine Deutsch- und eine Mathestunde. Das können wir an der Wandtafel erkennen, auf der mit Magneten die Fächer angezeigt werden.
Austoben ja, aber nicht ganz ohne Zurückhaltung
Nach der Pause dürfen die Schüler:innen zu zwei «Let’s Dance»-Choreos mittanzen, um sich rhythmisch auszutoben, bevor sie sich wieder dem Unterricht widmen. Beim ersten Song «Waka Waka», dem WM-Hit von Shakira, tanzen die Mädchen und Jungs den grellen Figuren im Fussball-Outfit nach. Bei dem zweiten Tanzvideo blocken die Jungs ab. Zu Pitbulls «Timber» tanzt nämlich eine Frau, zusammen mit einem Pandabären. Eine Gruppe von Jungs weigert sich, die Frauenrolle zu tanzen. Stattdessen krallen sie sich an ein Pult und machen nicht mit, trotz Überzeugungsversuchen von Baris.

Danach kommt es zur «Planlektion», wobei alle selbständig an einem Pool von Aufgaben arbeiten können. Es gilt aber «Fredi-Flüsteri», also Flüsterstunde. Aus unserer Schulzeit wissen wir noch, dass Jungs öfter negativ aufgefallen sind als Mädchen. Insbesondere dadurch, dass sie laut waren und sich eben nicht an «Fredi-Flüsteri», oder den «stillen Fuchs», wie er damals noch hiess, gehalten haben. Auch Baris erzählt von diesen Geschlechter-Unterschieden. «Tendenziell sind Mädchen in der feinmotorischen Entwicklung und in der Emotionsregulation weiter als Jungs.» Er fügt an, dass eben dies zu Schwierigkeiten für die Jungs führen kann. Denn sie hätten eher Mühe mit Anforderungen, die die Schule stellt, wie zum Beispiel «schönschreiben» oder «still sein».
Geschlechterfragen sind nicht wie Matheaufgaben
Während unserer Recherche stossen wir auf Christa Kappler von der Pädagogischen Hochschule Zürich, die wenige Wochen zuvor eine Studie zum Umgang mit Geschlechtern im Unterricht begonnen hat. Sie erzählt uns, dass das Beschreiben und Hinterfragen von Geschlechterrollen zwar im Lehrplan drinstehe, wie das die jeweilige Lehrperson aber umsetze, sei sehr individuell und auch nicht ganz einfach. «Es gibt eben nicht einfach ein Lehrmittel, welches man durchgehen kann und dann, ‹check, check, check›, weiss man alles über Geschlechter, man hat es ja schliesslich besprochen.» Deshalb untersucht sie nun die «Geschlechterreflexivität» von Lehrpersonen – ein komplizierter Begriff. Sie erklärt uns, dass sich die Kompetenz einer Lehrperson aus der Kombination von Wissen, Wollen und Können zusammensetzt. Im facettenreichen und dynamischen Geschlechterdiskurs reicht dies jedoch unter Umständen nicht. Hier müssen es Lehrpersonen aushalten können, etwas nicht zu wissen. Diesen bewussten und doch nicht zwingend komplett vollständigen Umgang mit Geschlechtern nennt Christa «Reflexivität». Dass dies eine Herausforderung sein kann, merken wir auch im Austausch mit den Lehrpersonen im Rahmen dieser Reportage.
Unterschiedliche Konfliktstrategien
Nur unsere eigene Erfahrung und eine einzelne Schule wären jedoch ein nicht sehr umfangreicher Blick auf das Thema. Also besuchen wir auch die Primarschule im aargauischen Bergdietikon. An den Wänden hängen die Geburtstage der Schüler:innen und eine Wörtersortiermaschine, die helfen soll, Nomen von Verben und Partikel von Pronomen zu unterscheiden. Als wir uns ins Klassenzimmer setzen, ist gerade noch Pause. In einer Ecke spielen einige Jungs mit einem Kissen Fussball, gleich nebendran raufen sich zwei weitere ohne bemerkbaren Grund. Die Mädchen sitzen währenddessen gemeinsam an einem Tisch, basteln Figürchen und singen Weihnachtslieder. Lukas Kalt ist erst seit diesem Sommer Klassenlehrer, aber auch er bemerkt Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Insbesondere beim Umgang mit Emotionen. Speziell auffällig ist dies in oder nach Konfliktsituationen. «Jungs sind sich sicher, dass sie die richtige Sicht auf den Konflikt haben und dass das Gegenüber komplett falsch liegt. Mädchen sind viel bedachter darauf, dem Gegenüber ihre Sicht zu vermitteln und sich in die Lage der anderen Person hineinzuversetzen».

Lukas ist die einzige männliche Lehrperson an der Primarschule in Bergdietikon. Er denkt schon, dass er vor allem für die Jungs eine gewisse Vorbildfunktion erfüllen kann. Männlichkeit vorzuleben sei für ihn aber eher zweitrangig. Er möchte vielmehr ein gesundes Erwachsenenbild mitgeben. «Zu Reden anstatt reinzuschlagen hat nichts mit ‹ein richtiger Mann sein› zu tun, sondern gehört für mich einfach zum Erwachsenwerden. Unabhängig vom Geschlecht», sagt Lukas.
Das Erwachsenwerden macht’s nicht zwingend einfacher
Irgendwann werden all diese Schüler zu Männern und vielleicht sogar Vätern. Valon Hamdiji ist Männerberater und regelmässig im Austausch mit erwachsenen Männern, die Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle zu kommunizieren. Er begrüsst uns im «Mannebüro Züri», gleich neben der Zürcher Langstrasse. Hier findet sich eine Anlaufstelle für Männer, unter anderem auch solche, die besonders ihren Partnerinnen gegenüber zu Gewalt neigen. «Die letzten hundert Jahre haben wir gelernt, unsere Gefühle und Bedürfnisse als Mann zu unterdrücken. Das ist ein unnatürlicher Prozess», sagt Valon. Hier suchen aber auch viele Väter Rat, die sich in ihrer neuen Rolle als Papi überfordert fühlen. Teilweise könne die Vaterrolle aber auch hilfreich sein, das eigene Verhalten zu hinterfragen. «Wir sprechen mit gewissen Vätern darüber, welches Bild sie vermitteln wollen oder wie sie die Vorbildfunktion als Mann gegenüber ihren Söhnen wahrnehmen.»

Das Elternhaus ist spürbar
Zurück in der Primarschule Schoren in Basel: In unserem Gespräch mit Baris Figen kommt der Einfluss der Familie zur Sprache. Die Unterstufenkinder redeten und plapperten mehr nach, was sie daheim mitbekommen – Die Älteren hätten bereits eigene Filter, sagt Baris. Dadurch werde schnell ersichtlich, welches Männerbild den Jungen mitgegeben wird. Baris, der als Lehrer in einem sonst eher weiblich besetzten Beruf arbeitet, stelle einen Widerspruch für die Kinder dar, «da ich eben nicht der typische Mann bin, wie sie es von ihrem nahen Umfeld kennen.»
Er erzählt viel von der Identitätsentwicklung, die vor allem in der fünften und sechsten Klasse anfange. Ihm sei es wichtig, dass er Kindern nicht ein bestimmtes Bild des «Mann-Seins» vorlebe, sondern, dass die Kinder «Bausteine» zu sich nehmen oder weglegen. So kann sich ihr Selbstkonzept entwickeln, also ihr Bild von sich selbst. Viel ausschlaggebender als der Einfluss von Vorbildern ist dabei aber die Zugehörigkeit zu Gleichaltrigen. Das kennen auch wir gut aus unserer Kindheit: Gruppenbildungen und der Drang, dazugehören zu wollen. Kinder denkten, so Baris, sehr viel darüber nach, zu welcher Gruppe sie gehören möchten. Er interpretiert deren Gedanken so: «Jungs verhalten sich so, also muss ich mich auch so verhalten, damit ich zu der Gruppe gehöre.» Wir fragen ihn, ob er meint, dass Jungs anders mit ihrem Geschlecht umgehen als Mädchen und er bestätigt: «Für die Buben gibt es häufig genau ein Männerbild, es ist viel weniger flexibel und dadurch viel fragiler.»
Wir wollten herausfinden, wie Männlichkeit in Schulen vermittelt wird. Dass Männlichkeit kein Riesenthema ist, kommt nicht unerwartet. Schliesslich gibt es da noch so viel anderen Lehrstoff, den Lehrpersonen mitgeben müssen. Dass Geschlechterrollen in der Schule vermehrt in den Unterricht integriert werden, empfinden wir als Fortschritt, welcher für uns auch zeigt, dass wir in unserer Gesellschaft einen Schritt vorwärts gemacht haben. Ausserdem bleibt im Kopf, dass Baris die Schule als «Spiegel der Gesellschaft» benannt hat, was uns doch recht zutreffend scheint. Die Schule setzt um, was von der Politik vorgegeben wird. Und die Politik wird hier von der grösseren Gesellschaft entschieden. Somit sind wir alle ein bisschen mitverantwortlich dafür, was die Erwachsenen von Morgen heute in der Schule lernen. Dabei sollten wir uns aber auch vor Augen halten, dass man nicht einfach alles kennenlernen kann und fertig. Gewisse Dinge sind einfach zu dynamisch für ein Lehrbuch. Wir müssen uns also immer wieder die Fragen stellen: Wie soll über Geschlechter gesprochen werden? Und wie soll das Männerbild der Zukunft vermittelt werden?

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